GERALD NESTLER

 

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  Juni 2003 Bienal de Valencia, Spanien


Dreitägige Audio – Visuelle Raumprojektion / Live-Performance
während der Eröffnung der Biennale von Valencia, Juni 2003
als Bespielung des Biennalebeitrages Timepill von Norbert Brunner


sexy curves revisited
- inside the data wave ist ein Kunstprojekt, das spezifische Formen graphischer Repräsentation von Wirklichkeit thematisiert: die weltweit agierenden codierten Datenströme, in welchen Informationen ökonomischer, politischer, sozialer Interessen und individueller Lebensrhythmen global kommuniziert werden.

Diese "Welten" werden in sexy curves visuell durch Kurvenbewegungen zweier ausgewählter Systeme repräsentiert, die jedem geläufig sind: Herzrhythmen und Börsencharts. Beide werden unabhängig voneinander projiziert, treffen auf die Besucher, bilden sich auf ihnen ab, wodurch eine sich zweifach bewegende Raumskulptur als soziale kinetische Plastik entsteht, und überlagern sich auf der Wandfläche zu einem Tableau informations-technologischer ecriture automatique.

Diese ecriture automatique zeigt sich heute als unsichtbare, ununterbrochen wirksame Formensprache, in der die Realität gestaltet wird. Die codierten Wellen, die unentwegt, unaufhaltsam als Information um und durch uns schießen, bilden das Grundgerüst und Rüstzeug, das Disegno (um einen Renaissance-Terminus zu verwenden) für die Formierung, Gestaltwerdung der Realität. In ihrer Feinstofflichkeit entsprechen sie molekularen, atomaren Teilchen, bilden mit der materiellen Existenz der Dinge die soziale, kulturelle und vor allem ökonomische Realität ab bzw. kreieren diese.

Der scheinbar leere Raum, gefüllt mit der Luft, die wir atmen, wird zur Verlängerung des Menschen, wird zum Medium seiner Kommunikation, zum Arbeitsfeld extrem verdichteter Sprachen. Die live eingespielten und damit während der Performance/Projektion von sexy curves immer aktuellen, im "Jetzt" sich befindenden codierten Bewegungen spiegeln in Form einer sozialen kinetischen Plastik die Durchdringung, die diese zwei Systeme in ihrer "Welt" auszeichnet: der Blutkreislauf als lebenserhaltendes System des (menschlichen) Organismus und die Diffusion des Finanz- und Wirtschaftssystems in unsere gesellschaftliche und individuelle Realität.

In seiner Unmittelbarkeit besonders anschaulich wird dies durch einen doppelten Soundkorridor: Ein Audio Live-Feed eines der größten Börsenmärkte der Welt, des Standard & Poor’s 500 Index (der oft von mehreren hundert Tradern gleichzeitig gehandelt wird) und der nicht weniger intensive Sound einer Ultraschall-Herz Aufnahme treffen aufeinander, vermischen sich, bewegen sich von einander fort.

Zwei Informationstransmitter, deren "Sounds" üblicherweise nicht gehört, deren "Spuren" trotz ihrer Bedeutung üblicherweise nicht wahrgenommen werden. Aus Sicht von sexy curves stellen sie Makro- und Mikrokosmos einer ökonomisch determinierten Kultur dar: Kreisläufe, die ihre "Botschaften" bis in die letzten Winkel treiben und ihre Reaktionen ins "Zentrum" zurückführen (des Körpers, der Welt) und sowohl das jeweilige System als auch die Welt, in der wir uns eingerichtet haben, am Leben erhalten.

Die Überlagerung/Überblendung spiegelt aber eine zunehmend gestörte Interaktion, die einer Vereinnahmung gleicht. Die immense Macht, die u.a. die Wirtschaft bis in gesellschaftliche und individuelle Bereiche hinein immer stärker ausübt, lässt sich über die Durchdringung der Töne und Bilder in sexy curves nachvollziehen. Eine Entwicklung von einer Kultur der (visuellen) Identifikation und Definition (der Blick durch das Mikroskop, Modelle des Sichtbaren/der Sichtbarmachung in den Ismen, etc.), wie sie die letzte Jahrhundertwende geprägt hat, hin zu einer Zivilisation deren soziale Realität mit ihren Formen der Erkenntnisgewinnung durch Sequencing, automatisierte Abläufe, komplexe Codes bestimmt wird.

Der Mensch, als Datenmenge unter anderen, wird einer systematischen Kontrolle unterworfen, bildet den Hintergrund dieser Ästhetik der Automation. Das "Reale" wird nicht entdeckt, gefunden, konzipiert, etc., es findet in codierten Sequenzen statt. Es hat sich atomisiert. Auf der Ebene der Wahrnehmung erscheint es als Virtuelles, Fliesendes. Wenn man Virilios Umdefinierung der berühmten McLuhan Formel "the media is the message" in "it is not the medium which is the message, but merely the velocity of the medium" ernst nehmen möchte1), könnte das "Informationssystem Blutkreislauf" als reines Hintergrundgeräusch gesehen werden, als sekundärer Code, der eines Tages aus der Wahr-nehmung verschwinden wird und mit ihm sein Träger.

Ein Weg von einer "culture of ersatz"2) hin zu einer Zeit des enlitement, in der Aufklärung als Informationsbereitstellung an Surveillance- und Automationsysteme dient und in Folge das Projekt des enlightenment, wie von Kant definiert3), ad absurdum führt. Der Mensch wird, gebranded, zum Verlust seines Bewusstseins verführt, und (wieder), in libidinöser Abhängigkeit, Objekt eines System-Souveräns.


1) Paul Virilio, The Information Bomb, S.141, London, New York 2000
2) Jean Charles Massena, Sex Art And Dow Jones, S.23, New York 2003
3) “Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen“,
Immanuel Kant, in: Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung?, 5.Dez. 1783, Leipzig 1929